Die Geschichten der Anderen
Von Americana und Tropicalismo beeinflusster Indiefolkpop aus Hamburg. Ergibt das irgendeinen Sinn?! Veranda Music sind seit der Jahrtausendwende eine Band, bei der sich die Kritiker*innen immer wieder nach einer Einordnung sehnen und sich dabei doch immer nur in ihren Schubladen vertun. Eine Band, die in keine Schublade passt?! Sorry, das vielleicht schlimmste Pop-Klischee von allen.
Dabei sind die Lieder von Veranda Music mit ihrer schweren Melancholie am Ende einfach nur wunderschön. Das Leben auf nahezu magische Weise entschleunigend. Eine Musik voller Leidenschaft und Hingabe. Über die Liebe. Das Leben. Und das immer irgendwie anwesende Ende von allem.
Nicolai von Schweder-Schreiner, Gitarrist und Sänger, und Lars Precht am Bass sind die beiden übriggebliebenen Gründungsmitglieder des später auf ein Quartett angewachsenen, ursprünglichen Trios, bei dem lange der legendäre Zwanie Jonson am Schlagzeug saß. Zwischendurch haben Harm Hinz an den Drums und Felix Huber an den Keyboards zur Band gefunden.
Im November 2021 erscheint nun endlich das fünfte Album der Band: "Unter Einfluss". Der Titel ist angelehnt an John Cassavetes‘ Film "Eine Frau unter Einfluss". Das Covermotiv der Fotografin Eliza Ollinger aus Detroit hat die Band allerdings auf Instagram gefunden. Dabei ist „Unter Einfluss“ ein deutschsprachiges Album geworden. Das erste deutschsprachige Album von Veranda Music überhaupt. Und auch eine Hommage.
Eine Hommage an den im November 1996 verstorbenen Hamburger Sänger und Songschreiber Tobias Gruben, auch bekannt als Kopf der Band Die Erde. Der Veranda-Music-Keyboarder Felix Huber war, das sollte man an dieser Stelle unbedingt wissen, der letzte musikalische Partner an Grubens Seite. Denn mehrere Stücke auf diesem Album sind Gruben-Songs, an denen Huber und teilweise auch Nicolai von Schweder-Schreiner seinerzeit mitgeschrieben haben. Songs wie "Moni", hier im Duett mit Pola Lia Schulten dargeboten, oder "Der Dan" zeigen noch heute, was für ein großartiger Songschreiber Tobias Guben gewesen ist. Dass die Band sich ansonsten bei Heinrich Heine und Udo Lindenberg ("Guten Tag, Herr Filmproduzent") bedient, stellt Gruben endlich auf ein gebührendes Plateau.
Auch wenn von Tobias Gruben bisher eher eine eingeweihte Gemeinde gehört haben dürfte. Daran hat auch der in der Corona-Pandemie untergegangene preisgekrönte Doku-Film "Die Liebe frisst das Leben" wenig geändert. Bisher.
Was den Bekanntheitsgrad angeht, ergeht es Veranda Music seit zirka zwei Jahrzehnten durchaus ähnlich. Sie sind der Geheimtipp aus dem Norden mit Musik für Menschen, die im Plattenladen eigentlich nach dem neuen Album von Caetano Veloso, Donald Fagen oder Lucinda Williams Ausschau halten, aber dann doch mit dieser tollen Platte aus Hamburg nach Hause kommen, die so gar nicht nach Hamburg klingen will. Eine Band, über die der große Robert Wyatt einst ganz schlicht und einfach gesagt hat: "This is a very good band".
"Unter Einfluss" beschäftigt sich auf ganz eigene Weise mit der deutschen Poesie im Popsong. Mit dem zwischenmenschlichen Kitt seiner Worte und den großen und kleinen, tragenden, zärtlichen Melodien.
"Unter Einfluss“ handelt davon, wie wir uns freiwillig wieder und wieder den Gefühlen von Fremden, zum Teil längst verstorbenen Menschen in ihren Liedern aussetzen. Uns auf grob skizzierte dreieinhalb Minuten lange Narrative einlassen, in denen scheinbar ein ganzes Leben steckt. Es handelt von der Sehnsucht nach den Geschichten der Anderen. Von der Identifikationskraft von Songs. Und davon, diese Geschichten weiterzuerzählen. Sei es als Nach- oder Neuerzählung. Andererseits ist es auch einfach das, was klassische Interpreten wie R.E.M., Cat Power oder Damon Albarn meinen, wenn sie Musik sagen und machen.
Mit „Seit Es Dich Gibt“ zum Anfang und „Schwaches Lied“ zum Ende befinden sich zwei Lieder auf dem Album, die Nicolai von Schweder-Schreiner und Lars Precht zusammen mit dem Keyboarder Vredeber Albrecht geschrieben haben. Der Text zum Album-Opener ist aus der Feder des Dramatikers Thomas Freyer. Der vom „schwachen Lied“ am Ende der Platte von Martin Heckmanns. Ebenfalls ein Dramatiker.
Erstaunlich dabei ist, wie dieses ganze Album mit seinem Ausgangsmaterial von Tobias Gruben über Heinrich Heine bis zu den kontemporären Liedern aus einem Guss klingt. Das hat natürlich mit der Produktion zu tun, aber eben auch mit ihrem besonderen Style. Mit ihrem ganz eigenen Sound. So dass beispielsweise ein Stück wie „Ich Kenn Deinen Bruder Vom Sehen“ anfängt wie 'Rolling In The Deep‘, um dann aber diese rohe Energie zu behalten und nicht im Bombast zu ersticken. Veranda Music haben sich diese Songs einfach komplett zu eigen gemacht.
Am Ende bleibt die Herkunft dieser Band, losgelöst von allen bekannten geografischen und biographischen Fragen und Fakten, weiterhin ein Rätsel. Was uns am Ende aber bleibt, ist ein weiteres, erstaunliches Album einer wirklich erstaunlichen Band.
Mit neuem Material zur weiteren Mythenbildung.
Tracklisting:
01 - Seit es dich gibt
02 - Denk nicht
03 - Moni
04 - Das Leben leichter
05 - Ich kenn deinen Bruder vom Sehen
06 - Der Dan
07 - Guten Tag, Herr Filmproduzent
08 - Wie schändlich Du gehandelt
09 - Schwaches Lied