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Crucchi Gang


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Nein, so richtig hatte keiner mit dem Erfolg von „Crucchi Gang“ gerechnet. Das Mitte 2020 erschienene Debütalbum des gleichnamigen Bandprojekts basierte schließlich nicht auf irgendeinem ausgeklügelten Business-Plan, sondern auf einer spontanen Idee von Musikmanagerin Charlotte Goltermann, Element of Crime-Sänger und Autor Sven Regener sowie Francesco Wilking (Die höchste Eisenbahn, Tele). Ein gemütlicher Abend nach einem Bob-Dylan-Konzert. Die drei dachten dabei unter anderem zurück an Leander Haußmanns Film „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken können“, für den Charlotte Goltermann 2007 die Musikberatung machte und bei dem James Last als Komponist fungierte. Als sich Haußmann noch einen italienischen Song wünschte, fiel ihr Wilking ein, damals der Sänger von Tele, einer Band, die nicht umsonst einen Hit namens „Mario“ hatte. Der fand die Idee spitze – und gefühlte fünf Minuten nach der Anfrage lag der Song auf dem Tisch.

Nach diesem Bob-Dylan-Konzert erfanden sie also das Bandprojekt, das bald Crucchi Gang heißen sollte: Crucchi, das ist ein eher abwertender Begriff aus dem Italienischen für die Deutschen. Die Gang, das waren auf dem Debüt Musiker:innen wie Sven Regener, Isolation Berlin, Sophie Hunger oder Clueso. Alle sangen sie Material aus ihrem Katalog auf Italienisch. Francesco Wilking verantwortete als spiritus rettore die Textübersetzung, als produttore esecutivo sorgte Patrick Reising für einen stringenten Gesamtklang.

Die kleine Idee wurde zu einem großen Erfolg. Der „Musikexpress“ vergab fünfeinhalb von sechs möglichen Sternen; „Plattentests“ schrieb, das Album funktioniere, „weil es sich nirgends anbiedert, nicht hüftsteif oder gar bedeutungsschwanger daherkommt, sondern einfach nur eine gute halbe Stunde mal ordentlich Spaß haben will.“ Vor allem aber traf die Crucchi Gang einen Nerv beim Publikum. Vielleicht, weil diese Songs in Zeiten der pandemiebedingten Einschränkungen kleine Fluchten aus dem Alltag ermöglichten. Vielleicht aber auch, weil sie so eingängig waren und einen sofort in die eigene Vergangenheit zurückbeamten; in die Italienurlaube der Kindheit und die damit verbundenen Autofahrten über den Brennerpass, zu den Auftritten von Gianna Nannini bei „Wetten, dass …?“ oder zu klemmigen TeenagerDates in Kleinstadt-Pizzerien. Jetzt folgt mit „Fellini“ die zweite Runde. Sie ist eigentlich eine nahtlose Fortsetzung der ersten, denn auch Wilking und Reising fanden Gefallen an den kleinen Fluchten aus dem Alltag – und entschieden sich, ohne große Pause weiterzumachen. Als Titel wählten sie dabei den italienischsten aller Namen: „Fellini“ verweist natürlich auf die facettenreiche Filmwelt des großen Regisseurs, der ab den 1940er-Jahren nicht nur breite Bilderbögen seines Landes zeichnete, sondern auf vielfältigste Art und Weise die Konventionen der Kunst in Frage stellte und so ein ganzes, eigenes Universum schuf.

Erneut gab sich im Studio in der Berliner Milastraße also die deutsche Pop-Prominenz die Klinke in die Hand. Zum Beispiel JEREMIAS, deren „ich mags“ ohnehin ein ungemein lässiges Stück Musik ist. „Ein VibeSong“, sagt Francesco Wilking: „Das Gefühl ist sleazy Disco; fiebrig und cool und sehr im Moment verhaftet. Das ist etwas, womit ich sehr viel anfangen kann!“ Als Teil der Crucchi Gang schieben die Hannoveraner ihren Sound dezent Richtung Hedonisten-Disco: Die Bläser sind schmissig, die Background-Vocals sweet, der Bass slappt, kurzum: Als „Mi piace“ klingt die Nummer so, als trüge sie einen weißen Anzug. Auch Tocotronic, deren „Im Zweifel für den Zweifel“ als „In dubbio per il dubbio“ interessante MorriconeStimmungen versprüht und Lina Maly, die „Als du gingst“ zur weich abgefederten Nachtclub-Ballade ausbaut, empfahlen sich als neue Gang-Mitglieder. Des Weiteren hören wir Dota, Tristan Brusch, Antje Schomaker, Maike Rosa Vogel und Wilkings eigene Band Die höchste Eisenbahn. Zwei Dinge fallen dabei auf: Zunächst einmal besitzt „Fellini“ einen ungemein geschlossenen Gesamtklang, ist vom Kern her ein echtes Künstler:innenalbum. Zudem beweist es mit seinen vielen Vokalist:innen eine wunderbar selbstverständlich wirkende Geschlechterparität.

Franceso Wilking war es, der erneut alle Texte ins Italienische übertrug und anschließend die Sänger:innen im Studio zu Dingen wie Aussprache und Betonung coachte. Eine Aufgabe, die einen interessanten Nebeneffekt hatte: Vor der Crucchi Gang war Francesco Wilkings Italienisch eher rudimentär: Er wuchs zweisprachig auf, sein Vater sprach mit ihm Deutsch, die Mutter Italienisch. „Ich wusste, was Schlafanzug oder Schnuller heißt. Aber Alltagssprache oder das, was man in der Linguistik die verschiedenen Register nennt – davon hatte ich vorher nicht so viel Ahnung, weil ich nicht oft genug in Italien war. Ich habe bei der Arbeit an diesen Songs also eine Menge gelernt, einfach, weil ich so viel auf Italienisch gesungen, gesprochen, gehört, geschaut habe. Im Prinzip ist die Crucchi Gang für mich auch eine Bildungsreise.“

Eine zweite Sache, die Wilking lernte: Er weiß schnell, ob ein Song für die Crucchi Gang taugt oder nicht. „Das erkennt man innerhalb von fünf Minuten. Man hört den Song einmal, und dann springen einen schon bestimmte Stellen an. Die versucht man dann, ins Italienische zu übertragen. Wenn man dann merkt, dass man nicht in die andere Sprache übersetzen kann wie mit einem Boot auf die andere Seite eines Flusses, braucht man gar nicht weitermachen.“

Es ist kein Zufall, dass Francesco Wilking den Begriff des Übersetzens hier etwas anders verwendet. Denn es geht bei der Crucchi Gang nie um eine Eins-zu-Eins-Übertragung der jeweiligen Songinhalte. Eher geht es darum, das Gefühl der Songs ins Italienische zu transportieren und mit ein paar zusätzliche Umdrehungen zu versehen. Eine ähnliche Geschichte zu erzählen wie im Original, nur eben angesiedelt südlich des AlpenHauptkamms, vielleicht am Strand neben dem Sonnenschirmverleih, auf dem Parkplatz hinter der Scuola Media oder in der Espresso-Bar.

Am deutlichsten wird das bei den beiden Liedern, die Wilking selber singt. Diese hat er dem Kanon deutscher Unterhaltungsmusik entnommen und einmal auf links gedreht. Mit Wertschätzung, aber auch mit einer guten Portion Lust, daran etwas zu verändern: Den „Goldenen Reiter“ von Joachim Witt hat er zum „Cavaliere d’argento“ gemacht; die Gründe für den Wechsel zum etwas preiswerteren Silber liegen ausschließlich in der besseren Phrasierung. Angepasst hat er auch den Sound: Der Protagonist reitet nicht mehr durch kalten Wave-Nihilismus, sondern durch sanft abgefederte Easy-Soul-Klänge, für die Wilking tief in die Struktur des Songs eingriff. Bei Reinhard Meys „Gute Nacht, Freunde“ hat er – nun nicht direkt den Inhalt verändert, ihm aber eine Fußnote beigefügt. Der Protagonist des Songs, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er aufgrund seiner vielen, vielen Geschichten immer noch einen Moment, eine Zigarette, ein Glas Rotwein länger bleibt, sagt irgendwann: Ich geh’ jetzt wirklich! „Mein eigener kleiner Spaß“, erklärt Francesco und lacht. Reinhard Mey lachte mit; zumindest nickte er die Crucchi-Gang-Version ab.

Diese beiden Kabinettstückchen rahmen ein Album, das nicht nur Lust darauf macht, sofort südwärts zu reisen. Es ist gleichzeitig der Beweis dafür, dass Musik eine Sprache ist, die man auch dann versteht, wenn man die eigentliche Sprache nicht versteht. Klingt kompliziert? Ist es überhaupt nicht. Setzen Sie sich in ihren Lieblingssessel. Schließen die Augen. Schenken Sie sich einen Drink ein. Wenn Sie rauchen, zünden Sie sich eine Zigarette an. Wenn nicht, holen sie sich ein Eis aus der Gefriertruhe. Und jetzt drücken Sie auf die Abspieltaste – capirete cosa voglio dire.

Tracklist

01 Crucchi Gang, Francesco Wilking – Cavaliere d‘argento 02 Crucchi Gang, Antje Schomaker - Tempo sprecato 03 Crucchi Gang, Tristan Brusch - L'altra meta 04 Crucchi Gang, Lina Maly - Quello che sei 05 Crucchi Gang, JEREMIAS - Mi piace 06 Crucchi Gang, Tocotronic - In dubbio per il dubbio 07 Crucchi Gang, Die Höchste Eisenbahn - Lisbeth 08 Crucchi Gang, Maike Rosa Vogel - Cinque minuti 09 Crucchi Gang, Dota – Per l’universo 10 Crucchi Gang, Francesco Wilking - Buonanotte amici

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